Anno 1800 und die Sklaverei: Ein Feature, das sich nicht durchsetzen konnte

Anno 1800 ist eine Wirtschaftssimulation, die uns zu AnführerInnen einer Kolonialmacht Anfang des 19. Jahrhunderts macht. Das Spielziel ist die Besiedelung und Erschließung der „neuen Welt“: Unbewohnte Inselparadiese, in denen wir Städte gründen und florieren lassen sollen.

Die Serie besticht dabei traditionell mit einer großen Liebe zum Detail: Komplexe Warenkreisläufe wollen aufgebaut und ständig erweitert werden, um die wachsenden Bedürfnisse der eigenen Bevölkerung zu befriedigen. In Häusergassen spielen derweil Kinder, Holzfäller schlagen Bäume zu Kleinholz, das Design der Städte, Kleidung und Schiffe entspricht der historischen Vorlage des frühen 19. Jahrhunderts. Mit Ausnahme eines bemerkenswerten Auslasses.

Sklaverei wurde als Thema gezielt weitestgehend ausgeblendet und spielt in Anno 1800 faktisch keine Rolle – dabei war sie in ebendieser historischen Epoche, bei der sich die Wirtschaftssimulation so reichlich und werbewirksam bedient, noch immer nicht wegzudenken. 

Ich schrieb über diese Entscheidung des Entwicklerteams und die zweifelhafte Begründung für die historische Aussparung, die auf einem Recherchefehler beruht, aber noch tiefer reicht. Auf meine Rückfragen bei den Verantwortlichen von Ubisoft erhielt ich keine Antwort, dafür aber Häme und Ablehnung von einigen Leserinnen und Lesern, sowie Kolleginnen und Kollegen, die hier keinen Grund zur Kritik oder auch nur Nachfrage sehen wollten. Sogar anonyme Drohnachrichten von verärgerten Fans erreichten mich.

Nun meldete sich ein ehemaliger Anno-Entwickler bei mir via Mail, der aus Sorge um berufliche Konsequenzen hier anonym bleiben möchte. Er verfolgte meine Berichterstattung über Anno 1800 und entschloss sich dazu, mit dem nachfolgenden Text einen spannenden Einblick in die Welt der Spieleentwicklung zu geben, der verständlich macht, wie historisch kontroverse Themen in großen Entwicklerteams wie Ubisoft verhandelt werden können – und wo hier die großen Schwierigkeiten eigentlich liegen.

Es ist ein wertvoller Blick hinter sonst fast unüberwindbar hohe Kulissen, für den ich sehr dankbar bin.

Es folgt der Gastbeitrag des ehemaligen Anno-Entwicklers.

Warum schweigt Anno 1800 beim Thema Sklaverei?

Die ganze Antwort kennt nur Ubisoft, das letzte Wort liegt bei den Macher*innen. Aus meiner Erfahrung als Spieleentwickler, der an einigen Anno-Spielen vor Anno 1800 beteiligt war, kann ich allerdings Hintergründe beleuchten, warum sich historische Kontroversen nicht ausreichend in Spielen niederschlagen.

Spoiler: Wir Entwickler*Innen sind weder faul, noch Rassist*Innen (die meisten zumindest). Aber wir sind Menschen im komplexen System Spielentwicklung.

Wer heute ein Spiel entwickelt, sucht das Millionenpublikum – zumindest für die AAA-Industrie gilt das. Gespielt werden soll in Bautzen und in Brasilia, in Atlanta und Abu Dhabi und ganz besonders gern in Shanghai. Jung und Alt sollen Handy, PC oder Konsole anwerfen, Bauarbeiterinnen, Kindergärtner, Hippies und Bankangestellte. Im Vergleich zur angepeilten Spielerschaft ist jedes Entwicklerteam gleichförmig, selbst bei den allergrößten Produktionen: Es braucht einen gewissen Bildungsgrad, um Spiele zu entwickeln, gerne mit formalem Abschluss, etwa in Informatik oder Design. Man braucht Zugriff auf technische Geräte, idealerweise seit der Kindheit; dazu Quellen, von denen man die neuesten Spiele (nicht notwendigerweise legal) bezieht. Nicht zuletzt bedarf es viel freier Zeit zum Zocken, ungetrübt von äußeren Zwängen.  

Es gibt ehrliche Bemühungen, die Vielfalt in Spielestudios zu erhöhen. Dennoch dominiert unter diesen Bedingungen weiterhin jener Typ technisch interessierter, gut gebildeter, durchaus progressiver Männer (und einiger weniger Frauen), die bereits in den 1980ern den Ton angaben – nun allerdings aus einer Vielzahl Länder und in enorm gewachsener Zahl.

Je größer das Team, desto größer die Herausforderungen

Größere Teams führen dabei keineswegs zu breiterer Meinungsvielfalt, im Gegenteil: Je mehr Menschen sich verständigen sollen, desto geringer müssen Widerstände ausfallen. Eine Idee wird ausgebrütet, den eigenen Vorgesetzten schmackhaft gemacht, in der Abteilung diskutiert, teils da schon mit 20 und mehr Personen. Eine Initiative der Abteilung startet nun, wird bombardiert mit skeptischen Fragen: Die Chefprogrammiererin rechnet die Performance-Kosten vor, der Art Director findet das resultierende Bild eintönig, das Game Design beschwert sich über Redundanz und die Produktionsleitung fragt nach der Refinanzierung. Je nach Firmenkonstellation wiederholt sich dieses Spiel auf vielen Ebenen – Marketing, Studioleitung, Brand-Gralshüter und Investoren wollen schließlich auch ein Wort mitreden.

Am Ende steht ein Kompromiss – der bis zum Release praktisch immer wieder hinterfragt wird. Zurück bleiben nämlich stets Menschen, die genau gegenteiliger Meinung waren, dessen was beschlossen wurde. Die Folge: Je größer das Vorhaben und je mehr Personen involviert sind, desto konsensfähiger muss eine Idee in der Spielestudio-Blase sein: „GTA macht das auch…“, „Das gibt es in jedem Zelda…“, „Also bei Fortnite…“. Gelegentlich gibt es natürlich den brillanten Einfall, der alle hinter sich vereinen kann. Häufig sind sie jedoch nicht und meist entstehen sie in einer der weniger beachteten Ecken der Entwicklung; als Zufallsprodukt unter dem Radar, oder in der Indie-Nische.

Spieleentwicklung jenseits der 3-Personen-Garage ist Politik. Wenn kontroverse Themen in dieser Umgebung Einzug halten, so ist dies oft dem heroischen Einsatz Einzelner zu verdanken – oder der Marketing-Überzeugung, den Spiele-Brand einmal so richtig aufmischen zu müssen. Doch damit diese Ideen tatsächlich Gestalt annehmen, braucht es Rückhalt auf allen Ebenen. Naturgemäß fällt dieser größer aus, je weiter oben in der Hierarchie ein/e Mitarbeiter*In angesiedelt ist. Dort finden sich aber bevorzugt Menschen, die schon viele Kompromisse mitgetragen haben und in Geschmack und Lebensweg einander noch ähnlicher sind, als der teils prekäre Unterbau. Sperriges braucht mehr als gute Argumente, um in dieser Umgebung Gehör zu finden. Klischees dagegen überzeugen, eben weil sie griffig und altbekannt sind.

Wenn Anno 1800 sich nicht mit Kolonialismus und Sklaverei auseinandersetzt, dann nicht, weil dies nicht intern diskutiert wurde, oder es an Ideen fehlte. Jede, wirklich jede Idee, die man sich vorstellen kann, jedes Problem, jede Frage, wird in einer typischen Entwicklung vorgebracht, gerne auch mehrfach. Nur gibt es eben für jede Idee auch plausible Gegenargumente. „Was nützt es uns? Was kostet es uns?“ In diesem Rahmen fallen die Entscheidungen. Die simple Antwort für Anno 1800 lautet: Im Wettbewerb der Ideen, der eine Spieleentwicklung ist, konnte sich keine ‚große Lösung‘ zur Annäherung an die historischen Schwergewichte durchsetzen.

Kleinere Versuche, das Thema aufzugreifen (ob gelungen, oder nicht), finden sich im Spiel ja durchaus (etwa in der Figur des KI-Konkurrenten und ehemaligen Sklaven George Smith). Aber nichts behandelt das Thema verzahnt mit der Spielmechanik, wie das etwa bei der Orient-Okzident-Beziehung in Anno 1404 der Fall war. Eine solche Herangehensweise erfordert jedoch großen Einsatz auf allen Ebenen, nicht nur im Game Design: Grafiken für das Leid der Zwangsarbeit sind zu entwickeln, weder beschönigend noch karikierend. Sound, Musik und Text müssen den Ton treffen. Das Marketing muss einen Mittelweg finden zwischen Eskapismusversprechen und ernster Thematik. Das alles von einem deutschen Studio in einem Spiel, das seit dem Ur-Anno 1602 mit kolonialen Klischees überladen ist (Südseeromantik! Glorreiche Marine! Gold und Zuckerrohr! Fortschritt unter Palmen!).

Es wäre schwierig geworden – wobei Anno 1404 und Anno 2070 durchaus zeigten, dass die Serie kontroverse Themen wagt (Kreuzzüge! Klimawandel!). Doch diesmal fehlt der passende Schub: Offenkundig stellten sich weder einflussreiche Einzelne hinter die Idee, noch war der interne oder externe Widerstand stark genug, das Thema in den Mittelpunkt zu (d)rücken. In der Abwägung der Kosten erschienen externe Proteste vernachlässigbar.

Das kann man verurteilen. Allerdings sollte sich jede*r dabei die Frage stellen, ob sie bereit wären, im eigenen Beruf durch viele Instanzen zu gehen, Vorgesetzte zu bedrängen, Teammitglieder und Freund*Innen zu nerven, um die persönliche Sicht der ‚angemessenen‘ Darstellung von Sklaverei und Kolonialismus abzubilden. In einem Anno-Spiel. In einem Team, dass überwiegend nicht aus People of Color bestand. Zu einem Thema, wo selbst honorige Wissenschaftler*innen um das Wer, Was und Wie der Erinnerung ringen.

Auch Schweigen ist eine Antwort

Die Versuchung liegt immer nahe, den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen. Jede Botschaft kann missverstanden werden. Ist es da nicht richtiger zu schweigen? Leider ist Schweigen auch eine Botschaft. Sie sagt laut und deutlich: „Hier gibt es nichts zu bereden.“ Wenn Europäer mit Kanonenbooten die Schätze exotischen Ländern ‘ausführen’, dann ist das… Tja, hmm. Angesichts des Elefanten, der da im Porzellanladen schwebt, ist das schon ein äußerst aktiver Akt des Wegsehen-Wollens.

Umso mehr gilt das, weil das Spiel alles zugleich will: Einerseits harmlosen Tourismus-Schönbau mit bunten Modelleisenbahnen, andererseits ‚realistische‘ Arbeiteraufstände und das volle Programm kolonialer Expansion mit Stationen in allen Regionen der Erde.

Natürlich gab es diese Diskrepanz schon in früheren Anno-Teilen: Das Mittelmeer ist nicht für seine Inselwelt bekannt; es sieht auch nicht so aus, als würden wir in 50 Jahren aus unseren Archen steigen. Aber wo die Zukunfts-Annos Science Fiction schon im Titel signalisierten, geht Anno 1800 All In für Historienkitsch aus Kaisers Zeiten. Hier das Intro der offiziellen Website: „Anno 1800™ – Führe die Industrielle Revolution an! Willkommen im 19. Jahrhundert, einer Zeit der Industrialisierung, Diplomatie und der Entdeckungen.“ Das ist ebenso geschichtsblind wie penetrant pseudo-historisch. Wohin ‚führe‘ ich denn ‚die Industrielle Revolution‘? 1870? 1914? 1939?

Aus Entwicklersicht stößt mir das besonders sauer auf, weil hier bewusste Marketing-Entscheidungen getroffen wurden. Man kann ein Spiel wie Anno auch als „märchenhafte Aufbauerfahrung“ anpreisen, als „entspannte Modelleisenbahnwelt mit viktorianischem Flair“. Stattdessen wird geworben mit der großen Kelle historischer Begriffe, mit Krupp-Stahl, Bismarck, Schliemann, um sie einmal auf Deutschland herunterzubrechen.

Umgekehrt sind genug Varianten eines Anno 1800 denkbar, die auf weniger Zehen treten. Nicht alles kann historisch angemessen verhandelt werden, doch Kreativität kennt viele Annäherungen. Spielmechaniken können Spieler mit realitätsnäheren Abwägungen konfrontieren, Settings können verschoben werden. Schon der Start in einer anderen Kultur als der europäischen hätte ein Signal bedeutet, ebenso mehrere Startvölker, ähnlich Anno 2070. Umgekehrt hätte ein reiner Fokus auf Europa (von Portugal bis Norwegen) zumindest das Kolonialismus-Thema gemindert.

Der volle Gang ins Phantastische wäre ebenso möglich gewesen, ob als viktorianischer Steampunk oder in einer SciFi-Variante. Ein Anerkennen der Geschichte bedeutet eben nicht das Canceln von Ideen, sondern den Zwang zu einer innovativen Auseinandersetzung damit. Wir verlieren althergebrachte Klischees und gewinnen neue Gedanken. Kein schlechter Tausch – wenn, ja, wenn er Unterstützung im Kleinkosmos Spielestudio findet.

Kritischer Spielejournalismus kann etwas bewirken

Bleibt also nur Resignieren? Nein. So träge das System von innen auch sein mag, so schnell reagiert es auf Druck von außen. Die Gamesbranche blickt aus meiner Wahrnehmung weitaus sensibler auf kritische Berichterstattung, als dies vielen Spielejournalisten bewusst ist. Keine PR-Abteilung bespricht gern mit Politikern und Investoren die dicken Skandale, die New York Times, Spiegel und Co aufgreifen. Doch auch was nicht in den ganz großen Blättern landet, bleibt oft Flurgespräch, wird auf Entwickler-Portalen verhandelt, geht herum auf Branchen-Messen und geistert durch Powerpoint-Präsentationen. Wichtiger noch: Es liefert Argumente im Wettbewerb der Ideen. Ein „Das geht heute nicht mehr“ kann der entscheidende Schub aus der Komfortzone gegenseitiger Selbstversicherung hin zur Innovation sein.

Wenn Spielejournalismus kritisch hinterfragt, ist es das Gegenteil von Cancel Culture. Gecancelt werden in jedem Studio zig Ideen am Tag, zugunsten von Althergebrachtem und Bekanntem. Äußere Kritik dagegen bricht Strukturen auf, gibt neuen Stimmen Argumente, Gewicht und Resonanz. In der Summe führt dies zu innovativeren Ideen, durchdachterem Design und frischeren Geschichten. Jenseits politischer Überzeugungen sollte jeder dankbar dafür sein, dass Megakonzerne wie Hobby-Entwickler von einer kritischen Presse ermuntert werden, Neues zu wagen. In diesem Sinne: Lieber Dom Schott, bleiben Sie sich treu und bleiben Sie kritisch!

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